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Interview

Verschärfung regionaler Unterschiede bei der demografischen Entwicklung

 

Die vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in Kooperation mit dem CIMA Institut für Regionalwirtschaft erstellte Deutschlandprognose 2035 kommt zur Erkenntnis: Weder ist die Alterung der Gesellschaft merklich gebremst, noch können sich jene strukturschwachen Regionen erholen, die schon in der Vergangenheit stark an Bevölkerung verloren haben. Dazu im Interview: Dr. REINER KLINGHOLZ Direktor und Vorstand des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und Leiter der Studie „Die demografische Lage der Nation“ (VÖ 4/2019).

 

Die Prognose unterstellt, dass die Bevölkerung in Deutschland noch einige Jahre wächst. Danach kehrt sich der Trend um?

Heute leben in Deutschland rund 83 Millionen Menschen – mehr als jemals zuvor. Unterm Strich kamen in den letzten Jahren deutlich mehr Menschen nach Deutschland als Sterbeüberschüsse zu verzeichnen waren. Zunächst vor allem aus anderen Ländern der EU und später durch eine hohe Zahl an Geflüchteten. Doch mittlerweile hat die ungewöhnlich hohe Zuwanderung längst wieder abgenommen. Unsere gemeinsame Prognose unterstellt, dass bis 2035 im Schnitt jährlich etwas mehr als 260.000 Menschen nach Deutschland ziehen. Dieses Wanderungsplus bewirkt, dass die Bevölkerungszahl noch einige Jahre steigt, bis die Zuwanderung nicht mehr ausreicht, die steigenden Sterbeüberschüsse auszugleichen.

Die Studie kommt auch zu dem Schluss, dass sich regionale Unterschiede in der demografischen Entwicklung verschärfen: Urbane Großräume wachsen und das Land verliert weiträumig an Einwohnern.

Das ist richtig und nicht neu. Neue, innovative Arbeitsplätze entstehen tendenziell in urbanen Regionen. Zudem tun die erfolgreichen Städte alles, um sich attraktiv zu machen: Sie bauen Wohnraum, verbessern die Familienfreundlichkeit und so weiter. Dadurch ziehen die Zentren junge Menschen an, während der entlegene ländliche Raum Bevölkerung verliert und altert. Während früher regionale Bevölkerungsverluste vor allem entstanden sind, weil viele Menschen abgewandert sind, liegt es künftig daran, dass mehr Menschen versterben als Kinder auf die Welt kommen. Diese ländlichen Gebiete schrumpfen also weiter.

Und noch immer ist fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer eine demografische Trennlinie zwischen Ost und West bemerkbar, die dem Verlauf der alten deutsch-deutschen Grenze folgt. In allen fünf ostdeutschen Flächenländern wird die Bevölkerungszahl bis 2035 abnehmen – am stärksten mit fast 16 Prozent in Sachsen-Anhalt. Nicht viel besser sieht die Entwicklung in Thüringen und Mecklenburg- Vorpommern aus, wo im Vergleich zu 2017 Verluste von knapp 14 Prozent respektive 11 Prozent zu erwarten sind. Einzig in Berlin stehen die Zeichen weiter auf Wachstum (fast 11 Prozent).

Wie sieht die Entwicklung in Westdeutschland aus?

Westdeutschland ist zweigeteilt: Fünf Bundesländer können bis 2035 eine wachsende Bevölkerung erwarten, die übrigen schrumpfen. Das größte Bevölkerungsplus von rund zehn Prozent wird Hamburg verzeichnen. Auch die beiden wirtschaftsstarken Bundesländer im Süden, Baden-Württemberg und Bayern, werden voraussichtlich zulegen – um rund vier Prozent. Ebenfalls auf Wachstumskurs bleiben Bremen und Hessen. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein müssen mit leichten Verlusten rechnen. Für das Saarland hingegen werden Verluste von fast neun Prozent prognostiziert.

Gibt es abseits urbaner Großräume auch Gewinner?

Von Gewinnern und Verlierern würde ich nicht sprechen. Jede Region muss sich ihren jeweiligen Herausforderungen stellen. Mit einem Plus von über 16 Prozent dürfte Leipzig zum relativen bundesweiten Spitzenreiter werden, mit allen Folgen für steigende Mieten und Problemen im Stadtverkehr. Städte wie Hamburg, München und Berlin reihen sich ein. Vor allem im Westen kann auch eine Reihe ländlicher Kreise mit Bevölkerungswachstum rechnen – solche, die sich überwiegend in den Speckgürteln der attraktiven Großstädte befinden und das Ziel von Berufspendlern sind. In eine positive demografische Zukunft schauen aber auch Kreise im Berliner Speckgürtel. Vor allem unter den 30- bis 49-jährigen Familienwanderern sind diese beliebt. Unter den peripheren ländlichen Gebieten fügen sich das westliche Niedersachsen nicht in das Bild vom demografischen Niedergang dünn besiedelter Regionen fern der Großstadt ein: Dort wächst die Bevölkerung wegen vergleichsweise hoher Kinderzahlen und einem guten Arbeitsmarkt.

Aber der Schwerpunkt der Einwohnerverluste liegt im ländlichen Raum?

Im Westen haben einige Großstädte mit Bevölkerungsrückgängen zu kämpfen. Das sind Städte mit Strukturwandel im Ruhrgebiet, im Saarland und in Küstenstädten im Norden. Im nördlichen Bayern entlang der früheren innerdeutschen Grenze, in der Südwestpfalz und der Eifel, im Norden und der Mitte Hessens, in Südwestfalen oder im südöstlichen Niedersachsen werden die Landkreise der Prognose nach weiter an Bevölkerung verlieren – teilweise mehr als zehn Prozent bis 2035. Dramatischer ist der Rückgang in weiten Teilen des Ostens. Hier liegt der Großteil der Kreise, die bis 2035 mehr als jeden fünften Einwohner verlieren dürften. Dabei gilt: Je peripherer ein Kreis gelegen ist, desto rasanter wird der Bevölkerungsschwund ausfallen.

Was hat Sie an ihren Ergebnissen überrascht?

Zum einen, wie stark die demografischen Verwerfungen der Nachwendezeit in Ostdeutschland heute zur Geltung kommen. Der Geburteneinbruch und die enorme Abwanderung in der Nachwendezeit haben Lücken hinterlassen, die jetzt ihre Auswirkungen zeigen und die sich nicht mehr schließen lassen. Zum anderen die Effekte des kleinen Babybooms, den das Land derzeit erlebt. Weil die Kinderzahlen in Osten wieder gestiegen sind, weil die Frauen in Deutschland insgesamt wieder mehr Kinder bekommen und weil die starke Zuwanderung mehr Nachwuchs mit sich bringt, müssen vielerorts dort neue Schulen gebaut werden, wo sie in der Vergangenheit geschlossen und abgerissen wurden.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus den Ergebnissen und welche Chancen sehen Sie?

In der Vergangenheit hatten wir eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Menschen sind dorthin gezogen, wo es Arbeit gab. Zukünftig ist es umgekehrt. Weil die Zahl der Menschen im Erwerbsalter
deutlich zurückgeht, werden Unternehmen händeringend nach Arbeitskräften suchen. Das gilt insbesondere für den in Deutschland so wichtigen Mittelstand, der oft nicht in den Metropolen sitzt, sondern eher in kleineren Städten oder gar in ländlichen Räumen. Wer diese Fachkräfte nicht mehr findet, steht vor dem Aus.

Was bedeuten diese Veränderungen für die Politik?

In einem Land, in dem die Gesamtbevölkerung nicht mehr wächst, auf längere Sicht bestenfalls konstant bleibt, ist nicht damit zu rechnen, dass sich alle einstmals besiedelten Orte  aufrechterhalten lassen werden. Diesen Realismus gilt es nüchtern anzunehmen. Eine Förderung derart angeschlagener Regionen lässt sich ökonomisch nicht begründen. Wohl aber ist es notwendig, den dort (noch) lebenden Menschen eine angemessene Versorgung zu garantieren. Diese Gebiete brauchen Unterstützung, denn aus eigener Kraft können sie sich angesichts sinkender Steuer- und Gebühreneinnahmen unmöglich finanzieren. Also muss die Politik lernen, den Schwund und den Rückgang zu verwalten und zu begleiten, sie muss Rückbau gestalten und kreative, unkonventionelle Lösungen zur Daseinsvorsorge ermöglichen.

Herr Klingholz, vielen Dank für das Gespräch!

Mehr zur Studie:  www.berlin-institut.org

 

Sie möchten wissen, wie sich Ihre Region konkret entwickelt und welche Strategien und Handlungsansätze sich daraus ableiten lassen? Kontaktieren Sie uns!
FABIAN BÖTTCHER, Leiter CIMA Institut für Regionalwirtschaft

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