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Innenstadt als begehbare Geschichte

 

von Andreas Reiter, ZTB Zukunftsbüro Wien

 


Städte sind im Umbruch: Tradierte Strukturen brechen auf, neue Möglichkeitsräume entstehen. Insbesondere zwei Megatrends – Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel – treiben dabei die Veränderung voran.


Flüssiger Lebensstil

Die digitale Transformation der Städte, die flüssige Gesellschaft mit ihren fragmentierten, beschleunigten Lebensläufen sowie ein zunehmender Nonstop-Lebensstil (24/7) der Digital Natives verschieben Funktionen im städtischen Raum und schaffen neue Formate. Orte werden multifunktional und fließend, ganz im Sinn einer hypermobilen to-go-Gesellschaft. Die Digital Natives pflegen einen flüssigen Lebensstil (Work-Life-Blending), der sich zur Entfaltung ebensolche Räume sucht. Multifunktionale Formate bestimmen das Werte-Set, aus Co-Working wird Co-Living. Die einzelnen Lebensbereiche, vor allem Arbeits- und Wohnort, Konsum und Dienstleistungen verschränken sich künftig wieder: Von der Markthalle in Rotterdam über die High-End-Büroimmobilie Twenty Two in London bis zur Digital Church in Aachen – überall entstehen besondere Orte, die in sich die DNA der flüssigen Moderne tragen.

Während die Industrialisierung ja einst für klare Trennlinien zwischen Arbeits- und Wohnwelten gesorgt hatte, wird diese Trennung in der digitalen Moderne wieder aufgehoben. In der intelligenten Stadt von morgen überlagern sich analoge und virtuelle Sphären, alles fließt ineinander: Bricks und Clicks, Arbeit und Freizeit, Öffentliches und Privates. „Die Digitalmoderne… hat ein Faible für das Hybride… sie privatisiert das Öffentliche, veröffentlicht das Private, sie verunklart den Ort und die Zeit und die Funktionen“, erkannte Hanno Rauterberg (Wir sind die Stadt!: Urbanes Leben in der Digitalmoderne, 2013).
Doch je mehr sich Daten und reale Räume überlappen, je geschmeidiger sich die Customer Journey des Nutzers gestaltet (on- wie offline), desto intensiver wird dessen Sehnsucht nach Emotion. Stadt-Nutzer sehnen sich nach realen Erfahrungen, nach multisensuellen Erlebnissen und nach magischen Orten, die eine tiefere Bedeutung in sich tragen. Innenstädte sind solche Epizentren der Emotion. Sie sind begehbare Geschichte in 3D, Speicher der kollektiven Identität. Der aktuelle Trend zur Historisierung und zur Rekonstruktion (z. B. Frankfurter Altstadt, Berliner Schloss u. a.) hängt mit dieser Suche nach Identität zusammen – Menschen brauchen Orte, die sie einbetten in ein größeres Ganzes, die sie andocken an eine Zeitlinie (gestern-heute-morgen). Diese Orte vermitteln Beständigkeit (und damit Orientierung) in einer Zeit der Umbrüche. Eines der stärksten Shopping-Erlebnisse in Europa bietet derzeit ein 500 Jahre alter Palast, der Fondaco dei Tedeschi in Venedig. Dieser Palazzo – jetzt im Besitz des Luxus-Konzerns LVHM (Moët Hennessy Louis Vuitton) – wurde von Rem Koolhaas sehr achtsam und sehr mutig (Rolltreppen im Inneren) zu einem vierstöckigen Edel-Store mit raffiniertem Storytelling umgebaut – in den Säulenhallen überall großes „Marken-Theater“ und in der Mitte wertige Gastronomie.

Die Zukunft des Handels im Digital Battleground?

Da künftig die tägliche Versorgung zunehmend ins Netz wandert und/oder an nomadische Knotenpunkte (Bahnhöfe, U-Bahn-Stationen etc.), bedeutet Shopping von morgen: Magie der Dritten Orte, Entkoppelung von Showroom und Verkauf, kurzum: Ritualisierung des Besonderen. Neue Ankerorte entstehen. Letztere vor allem im hybriden Mix von Kultur, Kommunikation und Inspiration – wie etwa Museen, Konzerthäuser oder größere Komplexe, letztere im Cross Development Handel-Tourismus (wie z. B. beim Bikini-Komplex in Berlin oder dem Goldenen Quartier in Wien, wo jeweils Retail-Konzepte und Hotel stimmig die Magie des Ortes erzählen). Der Händler wird zum Story Dealer, der den Kunden hineinzieht in spannende Erlebniswelten (die dieser im Netz nicht in der multisensuellen Tiefe bekommt). Aus dem Point of Sale wird der „Point of Emotion“. In der Ökonomie der Aufmerksamkeit gibt es eine heimliche Leitwährung – Gefühle. Der Konsument wird zum Sammler von Erinnerungen, der in der analogen Stadt ungewohnte Erlebnisse sucht und daraus seinen Image-Gewinn erzielt.

Konsumenten, deren Alltag permanent von Algorithmen getrackt und überwacht wird, wollen morgen vor allem überrascht werden. Virtuelle und analoge Touchpoints werden sich da überlappen, z. B. in Mixed Reality-Stores, in denen der Kunde auf der Suche nach Bergschuhen einen virtuellen Berghang hochklettern kann, intelligente Umkleidekabinen, die den Partner in Form von Hologrammen zur Unterstützung bei der Kleiderauswahl hereinspielen u.s.w. Shopping-Formate werden künftig aber auch soziale Erlebnisse gestalten müssen – Social Retail. Bei diesen Konzepten geht es um gemeinsame Erlebnisse mit anderen (daher auch der unaufhaltsame Vormarsch der Gastronomie in frühere Handelsflächen). Attraktive Geschäfte werden zur begehbaren Story, die den Nutzer mit starken Erinnerungen auflädt.


Über den Autor: ANDREAS REITER

Geboren in Innsbruck, gründete Zukunftsforscher Andreas Reiter Ende 1996 das ZTB Zukunftsbüro in Wien. Dies berät Unternehmen, Kommunen und öffentliche Institutionen im deutschsprachigen Raum bei strategischen Zukunftsfragen, strategischer Positionierung und markenkonformer Produkt-Entwicklung. Andreas Reiter ist Referent und Keynote-Speaker bei internationalen Kongressen und (Firmen-)Tagungen, Lehrbeauftragter für Trend- und Innovations-Management an der Donau-Universität Krems sowie am Management Center in Innsbruck (MCI). Zuletzt u. a. beim 30. Rid-Zukunftskongress und beim Stadtmarketingtag Baden-Württemberg in Stuttgart.

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In der Ökonomie der Aufmerksamkeit gibt es eine heimliche Leitwährung – Gefühle.

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